Präriesturm
Prärie-Reihe: Band 3
Sie reist allein in die Ferne, in ein neues Leben. Während Amber dort auf ihren Verlobten wartet, soll sie auf der Ranch seines Bruders leben. Die Dinge entwickeln sich schnell anders als geplant, besonders als ihr Herz eine nie dagewesene Wildheit entdeckt. Doch als wäre das Chaos ihrer Gefühle nicht schon genug, entbrennt auch noch ein gefährlicher Kampf um einen Fluss voller Gold und alles, was sie liebt, schwebt in höchster Gefahr.
Verlag: Books on Demand
Genre: Roman (Western)
Sprache: Deutsch
Umfang: 292 Seiten
Erscheinungsdatum: Mai 2019
ISBN-Nummer: 978-3-749-43513-5
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Kapitel 1: Zerfleddert
Die Dampflock fuhr gemächlich dahin. Das rhythmische Ruckeln hatte eine einschläfernde Wirkung, doch die wenigsten Passagiere gaben sich einem Nickerchen hin. Kaum einer von ihnen fuhr regelmäßig Zug und wenn es schon nicht die unbekannte Landschaft war, die ihre Aufmerksamkeit fesselte, dann sicher die Gedanken an ihr Ziel – Familie, Freunde, Hoffnung auf eine neue Arbeit, ein neues Leben. Niemand begab sich ohne guten Grund auf Reisen, setzte man sich doch allerhand Gefahren aus: Überfällen, Naturgewalten, Unfällen und weiß Gott, was der Westen noch so an Überraschungen bereithielt.
Ambers Finger schlossen sich unmerklich fester um ihren Fächer. Es war sengend heiß. Die Lok fuhr unter der gleisenden Sonne dahin, ein längliches schwarzes Monstrum, das seinem Weg auf den Gleisen pflichtbewusst folgte. Auch die geöffneten Fenster brachten auf Grund des geringen Tempos kaum Linderung. Stattdessen drang der Gestank des Dampfes, der nach hinten geweht wurde und ins Innere der Wagons eintrat, langsam durch jede Nervenzelle der jungen Frau.
Doch es war nicht allein die Hitze, die sie zum Schwitzen brachte und ihr die Röte ins Gesicht trieb. Vielmehr lag es an dem fein gekleideten Mann in ihrer Sitzreihe auf der anderen Seite des Ganges, der keine Gelegenheit verstreichen ließ, um ihr zuzulächeln. Amber zwang sich, ihm keine solchen Gelegenheiten zu bieten, doch es glich einem Unfall: Man wusste, dass man nicht hinstarren sollte, und doch tat man es immer wieder. Es war zum Verzweifeln!
Es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren und ihre Nervosität im Griff zu haben. Sie wünschte sich nichts sehnlicher als einen anderen Sitzplatz! Zu Anfang ihrer Fahrt war sie noch froh gewesen, dass der Platz neben ihr freigeblieben war, doch mittlerweile sehnte sie sich den größten und dicksten Mann herbei, den sie sich nur vorstellen konnte, Hauptsache, er würde das Sichtfenster zwischen dem Fremden und ihr schließen. Als der Lokführer Dampf abließ und das typische, pfeifende Geräusch erklang, wäre sie vor Schreck beinah von ihrer Sitzbank gerutscht. Dabei hatte sie dies seit Beginn ihrer Reise bereits Dutzende Male gehört!
„Ich bin sehr froh, dass Annie uns bei sich aufnimmt. Bei diesen Mietpreisen wären wir trotz unseres Ersparten schon sehr bald auf der Straße gelandet.“
Amber versuchte sich auf das Gespräch eines älteren Ehepaars in der Bank vor ihr zu konzentrieren. Ihr kam sofort der Gedanke, dass die beiden sich besser nicht laut über ihr Erspartes unterhalten sollten. Tom hatte ihr sehr deutlich erklärt, wie sie sich auf ihrer Reise und an ihrem Zielort verhalten sollte. Hier wimmelte es laut ihm von Halunken und Banditen. Kein guter Ort um hinauszuposaunen, wie viel Geld man in der Tasche mit sich trug.
„Leise, Martha, sprich nicht zu laut. Es könnte in die falschen Ohren gelangen“, tadelte der alte Mann seine Frau sogleich auf eine behäbige, gutmütige Art und Weise. „Ich hoffe nur, die Umstellung wird für dich nicht zu groß. Ich habe meine Kindheit auf einer Farm verbracht, aber du kennst nichts anderes als die Stadt. In der Einöde könntest du dich schnell einsam oder gelangweilt fühlen.“
Puh, da war Amber den beiden wirklich nicht neidisch. Sie könnte sich nie auf einer Farm oder Ranch wohlfühlen mit all den Tieren, der harten Arbeit und dem vielen Schmutz. Aus diesem Grund war sie auch sehr froh, auf einer wohlhabenden Ranch unterzukommen, die so groß war, dass sie die Tiere nicht einmal sehen würde, wenn sie es nicht wollte.
Einem festen Rhythmus folgend ruckelte der Wagon in gewissen Abständen immer wieder etwas mehr als gewöhnlich und so driftete Ambers Aufmerksamkeit langsam vom Gespräch des grauhaarigen Paares ab. Abermals entkam ihr ein kurzer Seitenblick auf ihren offensichtlichen Verehrer und sie bereute es sogleich, da er ihr lächelnd zuzwinkerte. Sie richtete den Blick starr geradeaus und tat so, als hätte sie es nicht gesehen. Lediglich ihr Verstärktes Wedeln mit dem Fächer und die rosafarbene Farbe, die in ihre Wangen zurückkehrte, verrieten sie.
In der Hoffnung, sich damit erfolgreicher ablenken zu können, versuchte sie über das Ziel ihrer Reise nachzudenken. Sie hatte sich die Ranch schon Tausende Male ausgemalt in den vergangenen Stunden und Tagen, die sie auf Reisen war, und sie war schon sehr auf ihre reelle Imposanz gespannt.
Zuerst war sie der Idee ihres zukünftigen Mannes, sie ohne ihn vorauszuschicken, sehr kritisch gegenübergestanden. Erst als er ihr vergewissert hatte, dass das Anwesen seines Bruders einer Lady wie ihr gerecht werden würde, hatte sie zugestimmt. Thomas wusste ohnehin meist, was gut für sie war und so hatte sie ihm auch in dieser Sache wieder vertraut. Und da er ein ausgezeichneter und angesehener Mann war, gab es für sie auch überhaupt keinen Zweifel daran, dass sein Bruder ebenso galant und zuvorkommend sein würde.
Ihr Mann - wie sie ihn zumeist nannte, obwohl sie nur verlobt waren - hatte in der nächsten Zeit geschäftlich noch viele wichtige Dinge zu erledigen. Da sie währenddessen die meiste Zeit alleine gewesen wäre, was ihm überhaupt nicht gefiel, hatte er die Entscheidung getroffen, sie bereits vorab zu seinem Bruder zu schicken und selbst nachzukommen, wenn er so weit war. Das war besser für sie und sie konnte sich bereits einleben, anstatt sich in ihrer alten Heimat zu langweilen, hatte er ihr erklärt.
Im Augenblick hätte sie viel darum gegeben, bereits einen Ehering am Finger zu haben, vielleicht hätte das ihren Verehrer abgehalten. Ihren Verlobungsring, ebenso wie allen weiteren Schmuck, hatte sie in ihrer Tasche verstaut. Auch ein Tipp von Tom, keinen teuren Schmuck offen zur Schau tragen. Das locke nur das Gesindel an.
Um ein Haar hätte sie wieder hinübergesehen, doch diesmal ertappte sie sich früh genug und zwang sich, stattdessen das Gespräch hinter sich zu belauschen. Dort saßen zwei Männer mittleren Alters in lederner Trapper-Klamotten.
„War verdammt lange nicht mehr hier. Hast du auch von der Portman-Bande gehört?“
Der andere hustete und Ambers Nackenhaare stellten sich auf. Sie hoffte, dass er sich die Hand vorhielt. Anschließend sog er geräuschvoll eine Portion Schleim ein, die sich wohl in seiner Nase befand, und Ambers Ekelgefühl stieg. Sie rutschte ein wenig zur anderen Seite, um nicht mehr direkt vor ihm zu sitzen. Womöglich musste er am Ende noch niesen…
„Hab ich gehört, Mann“, gab er schließlich zurück und räusperte sich anschließend geräuschvoll, ehe er fortfuhr, „schlimme Geschichte. Da hat sich der ganze Abschaum der Gegend zusammengerottet wie die Ratten, wenn’s was zu fressen gibt.“
Portman-Bande? Eine Bande? Ambers Augen weiteten sich unweigerlich. Sie wollte an keinen Ort, wo eine Bande ihr Unwesen trieb!
„Na, zumindest haben sie uns einen neuen Sheriff beschert!“
„Pah, der Geschichte trau ich noch nicht über den Weg. Es ist eine Frechheit, wie das vonstattenging. Das Volk wählt normalerweise seinen Sheriff, aber in Johnstown haben sie immer schon getan, was sie wollten, da kann auch der alte Sheriff noch während er verreckt seinem Auserwählten den Stern in die Pranke drücken. Ach, was reg ich mich auf, wenn er nichts taugt, landet er eh bald mit einer Kugel im Kopf unter der Erde.“
„So is‘ es“, stimmte der zu, der nicht verschnupft zu sein schien, „nur die Harten überleben hier. Das zarte Gemüse beißt hier schon ins Gras, bevor es genießbar wird.“
Anschließend verloren sie sich in Gelächter und Gerotze darüber, dass Gemüse ins Gras biss… Amber war völlig klar, dass sie es hier nicht mit zwei sonderlich intelligenten Mitgliedern ihrer Spezies zu tun hatte. Trotzdem beunruhigte sie das Gehörte. Eine Bande, ein neuer Sheriff… Johnstown war nicht wahnsinnig weit von Whitecourt, ihrem Reiseziel, entfernt. Sie hoffte nur, dass der Ruf der Stadt hielt, was er versprach und sie sich somit sehr, sehr weit vom Level von Johnstown abhob.
Und so tuckerte die Dampflok mit ihren Wagons weiter dahin. Wälder und Wiesen zogen auf der anderen Seite des Fensters an Amber vorbei und ihr stockte bei so manchem Tunnelschacht und so mancher Brücke, die sie überquerten, der Atem. Bald wurde die Landschaft jedoch karger und der Boden wurde stellenweise sogar wüstenähnlich. Das muss die Prärie sein, dachte sie hingerissen angesichts der weiten Ebenen, die sich schon bald auftaten.
Nach langen Stunden, die durch das etwaige Zwinkern ihres offensichtlichen Verehrers und die wenig ermutigenden Gespräche ihrer Mitfahrgäste nur umso länger schienen, erklang endlich das langersehnte Läuten des Lokführers. Das hieß, sie waren an ihrem Ziel! Amber hätte das pfeifende Geräusch, das die Lok beim Dampfablassen machte, am liebsten nachgeahmt vor lauter Freude! Nervös wartete sie auf ihrem Platz, ehe sie endlich gebeten wurden auszusteigen. Flink wie ein Wiesel packte sie ihren Koffer und schoss nach vorne Richtung Ausstieg, vorbei an dem älteren Paar, das vor ihr gesessen hatte, um dem interessierten Mann nur ja keine Chance zu geben sie anzusprechen.
Schnell überprüfte sie den Sitz ihres Kleides und glättete den Stoff ihres Rockes – sie wollte beim Bruder ihres Mannes, der sie höchstpersönlich vom Bahnhof abholen wollte, einen erstklassigen Eindruck machen. Ein junger, unsicherer Mann in zerknitterter Uniform öffnete endlich die Tür und das Licht des Tages fiel in den dunklen Raum. Amber hielt sich die Hand mit ihren feinen Lederhandschuhen vors Gesicht um nicht geblendet zu werden, ehe sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnten.
Etliche Menschen verließen den Zug. Nachdem der junge Mann ihr mit fahrigen Griffen geholfen hatte, ihren Koffer die steile, kurze Treppe hinabzutragen und sie mehrmals daran erinnert hatte, dass sie unbedingt den Handlauf benutzen sollte, um nur ja nicht zu stürzen, fand sich auch Amber auf dem hölzernen Boden des Bahnhofs von Whitecourt wieder. Sie zog ihren Koffer ein wenig zur Seite, um die anderen Gäste nicht am Aussteigen zu hindern, und sah sich um. Der Ort schien regelrecht zu strahlen! Die Gebäude waren weiß gestrichen und in einwandfreiem Zustand. Überall schwirrten Leute umher und es ging geschäftig zu. Sie seufzte zufrieden – genau so hatte sie sich ihre neue Heimat vorgestellt!
Die Menschen drängten an ihr vorbei, während sie langsam versuchte, sich eine Orientierung zu verschaffen. Tom hatte gesagt, sein Bruder sähe aus wie er - nur mit dunkelbraunem, statt dunkelblondem Haar. Sie sollte ihn leicht identifizieren können, sobald sich das Getümmel ein wenig lichtete.
In ihrer Begeisterung und während der Suche nach einem halbwegs bekannten Gesicht, bemerkte sie nicht, wie sich ein ungewöhnliches Trio auf sie zubewegte. Zwei Männer, die eine Frau eskortierten, bahnten sich ihren Weg durch die Menge. Erst als die Frau auf Ambers Höhe zu Toben anfing, zogen sie ihre Aufmerksamkeit auf sich. Erschrocken trat Amber einen Schritt zurück. Die Frau wollte sich losreißen, hatte jedoch keine Chance gegen die beiden Männer, an deren Hemden metallene Sterne schimmerten, wie Amber erleichtert feststellte. Eine Verrückte, dachte sie erschrocken, beinah schon angewidert.
Durch den heftigen Widerstand der rothaarigen Frau stieß der Mann zu ihrer Rechten gegen Ambers Koffer. Dieser fiel daraufhin um und zu allem Übel stieg der Mann auch noch mit seinen großen, schweren Stiefeln darauf. Ambers Herz begann zu rasen und ihre Empörung überwältigte sie regelrecht. Sie kam gerade hier an, an diesem schönen, neuen Ort, in ihrer neuen Heimat und würde so einen Empfang nicht dulden!
„Sie ungehobelter Klotz, sowas nennt sich Gesetzeshüter! Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind? Mein Name ist Amber Marshall und…“
Niemand, außer ein paar der Passanten, schenkte ihr großartige Beachtung. Sie war irritiert und fühlte sich plötzlich kindischerweise den Tränen nahe. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass ihr Name hier wohl niemandem etwas sagte, niemand hier wusste wahrscheinlich, dass sie die Verlobte von Thomas Donagan war. Missmutig beschloss sie, Whitecourt diesen Fauxpas noch einmal zu verzeihen.
Gerade, als sie nach ihrem Koffer greifen wollte, tauchte eine Gestalt neben ihr auf.
„Darf ich Ihnen helfen, Miss?“ Der Mann aus dem Zug, der stundenlang versucht hatte, ihre Aufmerksamkeit zu erhaschen, lächelte sie arglos an. Sie glaubte ihm die Erleichterung darüber, dass er nun endlich einen geeigneten Vorwand gefunden hatte, sie doch noch anzusprechen, beinah anzusehen.
„Nein, danke!“, sagte sie bestimmt und kümmerte sich in ihrer Aufregung nicht darum, dass sie wohl etwas unwirscher war als nötig gewesen wäre.
Sie riss dem Mann den Koffer, den er bereits aufgehoben hatte, regelrecht aus der Hand und marschierte damit blind drauf los, in die Menge hinein. Sie ließ sich ein wenig treiben, wusste nicht, wohin sie überhaupt laufen sollte und suchte sich schließlich ein stilles Plätzchen in einer Ecke. Hier beschloss sie zu warten, bis das Treiben ruhiger wurde und sie einen besseren Überblick haben würde. Mit einem Tuch entfernte sie den Fußabdruck des tölpelhaften Gesetzeshüters von ihrem Koffer und während sie anschließend darauf saß und die Passanten beobachtete, hob sich ihre Laune nach und nach wieder. Außer ein paar wilden Männern in Lederhosen und –jacken, die es sich offensichtlich zur Aufgabe gemacht hatten, Felle in der Wildnis zu erjagen, kamen ihr sehr viele feine Leute unter. Sie sah viele schöne Kleider, feine Damen und elegante Herren. Whitecourt schien seinem Namen alle Ehre zu machen. Das vorhin war sicher nur ein sehr seltener Zwischenfall gewesen. Anhand der Leute schloss sie, dass in dieser Stadt alles seinen geregelten Gang ging und auch eine Portman-Bande, von der sie im Zug gehört hatte, würde diese Ordnung nicht ins Wanken bringen können.
Der Vormittag wich dem Nachmittag und der Nachmittag dem Abend. Kein Hazen, wie Toms Bruder hieß, in Sicht. Und jetzt, da sie seit Stunden beinah allein am Bahnhof war, konnte sie auch absolut ausschließen, dass sie sich übersehen hätten. Er hatte sie nicht abgeholt. Er würde sie nicht abholen. „Er holt mich nicht“, sagte sie zu sich selbst, um den Satz, der sich ebenso bereits seit Stunden in ihrem Kopf wiederholte, endlich glauben zu können. Wie konnte das sein? Sie glaubte nicht, dass er sie vergessen hatte, das würde einem Donagan nicht passieren. Ob ihm etwas zugestoßen war? Vielleicht war er auf dem Weg hierher der Portman-Bande in die Finger geraten? Oder war er plötzlich krank geworden? Irgendetwas musste jedenfalls passiert sein, sonst konnte sie sich das nicht erklären.
Niedergeschlagen und besorgt packte sie ihren Koffer und machte sich auf den Weg vom Bahnhof in die Stadt. Jetzt würde sie wohl kaum mehr eine Kutsche finden, die sie zur Ranch bringen würde – und sie konnte nur hoffen, dass die Zimmer nicht alle bereits von den Leuten belegt waren, die mit ihr im Zug angekommen waren. Mühselig zerrte sie den schweren Koffer hinter sich her und hätte sich wohl über den sauberen und fortschrittlichen Eindruck von Whitecourt gefreut, wäre sie in einer anderen Lage gewesen.
Sie folgte einem Schild, auf dem „Stage Coach“ stand, in der Hoffnung, noch jemanden bei den Postkutschen anzutreffen. Wie sie jedoch bereits befürchtet hatte, waren die Ställe mit sich ausruhenden Pferden gefüllt und die Kutschen verlassen. Nun gab es nur noch einen Ort, der ihr an diesem Abend weiterhelfen konnte: der Saloon. Dort würde sie entweder ein Zimmer kriegen, oder, wie sie hoffte, einen Kutscher finden, der sie gegen einen gewissen Aufpreis zur Ranch bringen würde. Beides war womöglich recht unwahrscheinlich und was sie dann tun sollte, wusste sie selbst nicht.
So mühte sie sich abermals ab, ihren Koffer zurück, die Straße entlang und in den Saloon zu zerren. Es empfing sie ausgelassene Musik, Rufe und Gläserklirren. Männer saßen an Spieltischen und waren entweder todernst und still als föchten sie ein Schießduell aus, oder stritten sich darüber, wer betrogen oder verloren hatte. Wieder andere aßen an ihren Tischen oder tranken an der Bar. Auch einige wenige Frauen mit offensichtlichen Absichten hatten sich unter die Gäste gemischt. Saloons waren schon immer ein Ort der Sünde gewesen – also kein Ort für eine Frau wie Amber.
Sie bahnte sich ihren Weg bis zur Bar hindurch und ärgerte sich bei jedem Schritt darüber, dass sie hier sein musste. Dort angekommen, strich sie sich das Haar aus der Stirn und atmete durch. Dieser Koffer war wirklich verdammt schwer!
„Wie kann ich Ihnen helfen, Miss?“, fragte ein glatzköpfiger Mann mit dickem Bauch.
„Haben Sie noch ein Zimmer frei?“
Der Mann musterte sie von oben bis unten, ehe er antwortete: „Nein, Miss, tut mir leid. Die Zimmer sind alle bereits belegt.“
„Gibt es in dieser Stadt ein Hotel, in das ich gehen kann?“
„Nein.“
„Es gibt hier kein Hotel? In ganz Whitecourt?“
„Doch.“
Amber stieß hörbar die Luft aus: „Aber?“
„Aber was?“
„Wieso kann ich dort nicht hingehen?“
„Es ist noch nicht fertig.“
Ein ausgebuchter Saloon und ein Hotel, das noch in der Bauphase war. Na herrlich. Langsam wurde ihr diese Stadt doch wieder unsympathischer.
„Was soll ich tun? Ich kann ja nicht auf der Straße schlafen!“, jammerte sie und spürte, wie sich Verzweiflung in ihr ausbreitete.
Der Mann lächelte: „Suchen Sie sich doch eine andere Übernachtungsmöglichkeit. Das Angebot ist hier sicher reichlich.“ Er nickte in Richtung seiner Gäste. Amber stieg die Röte ins Gesicht, ehe ihr eine Idee kam.
„Ein Kutscher. Ist unter ihren Gästen ein Kutscher?“, fragte sie aufgeregt.
„Nein, Miss.“
„Jemand, der einen Wagen besitzt…?“, ihre Euphorie nahm bereits wieder ab.
„Nein“, erwiderte er abermals.
Amber seufzte. „Ich würde alles dafür geben, heute Nacht noch eine Kutsche zu bekommen.“ Sie ließ den Kopf hängen und fühlte sich bereits zum zweiten Mal den Tränen nahe – was war das nur für ein Start in ihr neues Leben! Die Strapazen zehrten zusehends an ihren Nerven.
„Wie viel denn?“
„Wie bitte?“
„Wie viel würden sie zahlen?"
Amber erkannte, dass sich hier vielleicht doch noch eine Möglichkeit auftat.
„Alles! Also, nein, ähm… einiges. Also, was stellen Sie sich denn vor?“
„Nun, mein Angestellter Brandon könnte sie hinbringen, wo auch immer sie hinmöchten, gleich morgen früh.“
Amber schüttelte den Kopf. „Wie sie vielleicht bemerkt haben, habe ich keine Unterkunft für diese Nacht. Er müsste mich heute Nacht noch wo hinbringen.“
„Heute Nacht?“
„Jawohl.“
„Hm, wohin denn?“
„Zur Donagan Ranch.“
„Wohin?“
Ambers Geduld näherte sich ihrem Ende. „Zur Donagan Ranch!“ Herrgott – Saloonbetreiber und er kannte nicht mal die Donagan Ranch?
„Wem gehört diese Ranch denn, Miss?“
„Mister Hazen Donagan.“ Allmählich fragte sie sich, ob er sie auf den Arm nahm?
„So, Mister Hazen Donagan. Und da möchten sie wirklich heute Nacht noch hin?“
„Ja…“
„Brandon“, rief er und ein großer, breiter und ebenso dicker Mann mit jungenhaftem Gesicht kam herbeigeeilt. „Die Dame möchte heute noch zu Mister Hazen Donagan gebracht werden. Schirr schon einmal die Pferde an.“
Der Junge machte große Augen, sah von Amber zu dem Salooonbetreiber und zurück, ehe er nickte und verschwand: „Okay, Boss.“
Der Mann wandte sich abermals Amber zu, diesmal mit deutlich wacheren Augen als zuvor. „Nun kommen wir zur Bezahlung…“
Den Titel „Kutsche“ hatte dieses Gefährt wahrlich nicht verdient. Es war ein einfacher Transportwagen mit einem Fahrersitz und einer länglichen Ladefläche. Schüchtern – und vielleicht auch ein bisschen beschämt, da war sie sich nicht ganz sicher – half ihr der Junge, auf die Ladefläche zu klettern und hob dann ihren Koffer hinein. Sie setzte sich entgegen der Fahrtrichtung hin und strich ihre Röcke auf ihren ausgestreckten Beinen glatt so gut sie konnte.
Ihr Fahrer stieg auf und nach einem kurzen „Sind Sie bereit, Miss?“ knallte er mit der Peitsche. Ein Ruck ging durch das Gespann und sie setzten sich in Bewegung. Bereits nach wenigen Metern wurde Amber klar, dass diese Fahrt nichts als eine Strapaze werden würde. Die ungefederten, hölzernen Reifen übertrugen jedes Steinchen und jedes Schlagloch eins zu eins in ihre Knochen. Nicht nur einmal hüpfte der Wagen so stark, dass sie mit ihrem Po unsanft auf den Planken landete. Da half auch jegliches Festhalten nichts. Ohne einige blaue Flecken würde sie diese Fahrt sicher nicht beenden.
Irgendwann, als die wenigen Lichter der Stadt schon fast nicht mehr in der Schwärze auszumachen waren, gab sie es auf, ihren Koffer festzuhalten. Er rutschte und hüpfte am anderen Ende der Ladefläche umher – was sie sicher auch getan hätte, würde sie sich nicht an den Rand klammern. Die Fahrweise des Jungen wurde mit jeder Meile unbekümmerter und somit schneller und gewagter. Doch sie wollte ihn nicht einbremsen, denn je schneller sie fuhren, desto schneller war diese Tortur vorbei.
Es vergingen Stunden und Amber beendete ihre Versuche nach und nach, ihren Körper durch Festhalten daran zu hindern, wie ein loses Gepäckstück zu hüpfen. Es ließ sich ohnehin kaum vermeiden, wozu also die Kraft, die ihr allmählich ausging, verschwenden. Immer wieder fielen ihr halb die Augen zu, doch bei diesem Gerumpel war an Schlaf weiß Gott nicht zu denken.
So fuhren sie die ganze Nacht hindurch und so blieb sie auch die ganze Nacht wach. Als die Sonne endlich langsam über den Horizont emporkroch, fragte sie sich, ob es eine schlimmere Folter auf dieser Welt gab als das, was sie in den letzten Stunden durchlitten hatte. Sie konnte es sich kaum vorstellen!
„Sind wir bald da?“
„Nicht mehr lange Miss, nicht mehr lange.“
Was auch immer das heißen mochte…
Es zogen weitere gefühlte Ewigkeiten ins Land, ehe ihr Fahrer den Wagen endlich anhielt.
„Wir sind da, Miss.“
Amber stützte sich am Rand ab und spähte nach vorne.
„Wie meinen Sie das, wir sind da? Hier ist doch nichts“, widersprach sie irritiert.
„Doch, Miss. Sehen Sie, der Planwagen dort vorne, dort wohnt Hazen, äh, Mr Donagan.“
„Nein, nein“, sagte sie und konnte einen leichten Anflug von Panik in ihrer Stimme nicht vermeiden, „das kann nicht sein. Hören Sie, ich muss zu dem Bruder meines Mannes, Hazen Donagan, der eine riesige Rinderfarm nähe Whitecourt besitzt. Sie müssen sich irren.“
„Miss“, sagte der Junge plötzlich bestimmt, ehe er etwas mitfühlender fortfuhr, „ich bin in dieser Stadt aufgewachsen. Ich verspreche Ihnen, dass es im gesamten County keinen weiteren Hazen Donagan gibt. Der Mann, den sie suchen, schnarcht dort vorne unter seiner Wagenplane.“ Er sah auf seine Zügel hinab. „Und wenn Sie verzeihen, ich würde mich gerne auf den Heimweg machen. Ich habe Sie hergebracht und noch einen weiten Weg zurück, das verstehen Sie doch sicher.“
Amber konnte noch nicht sagen, in welchem Albtraum sie sich gerade befand und wann die Blase endlich platzen würde, denn irgendetwas lief hier gerade gewaltig schief.
„Helfen Sie mir noch, meinen Koffer hinabzuheben?“, fragte sie etwas schnippischer, als sie eigentlich wollte.
„Natürlich“, meinte der Junge und beeilte sich, ihr zur Hand zu gehen.
Ehe sie unten angekommen war, verfing sich der Stoff ihres Ärmels in einem Splitter und riss mit einem unmissverständlichen Geräusch. Auch das noch! Ihr Kleid war ruiniert! Als sie festen Boden unter den Füßen hatte, spürte sie nach und nach, was ihr alles schmerzte. Ihr Fahrer hatte es eilig, wieder auf den Bock zu springen und sah sie einen kurzen Moment an. „Miss?"
„Ja?“, murrte sie.
„Es gibt keine Donagan Ranch. Nie davon gehört.“ Er tippte sich an die Krempe seines Hutes und trieb sein Gespann wieder an. Amber sah ihm nach und fragte sich, in welche Misere sie sich da hineinmanövriert hatte. Sie kam sich völlig dämlich vor, wie sie hier stand, mit ihrem riesigen, schweren Koffer, allein mit einem angeblich bewohnten Planwagen mitten in der Prärie. Dass dieser Mann, der da wohnen sollte, definitiv nicht Hazen Donagan, der Bruder ihres Mannes war, war klar. Doch die Worte des Jungen gaben ihr sehr zu denken. Was lief hier falsch? Eine klügere Frau wäre sicher nicht hiergeblieben, doch Amber war viel zu unbedarft und naiv, um sich Gedanken über mögliche Risiken zu machen.
Amber sah an sich hinunter. Ihr Kleid war zerknittert, der Ärmel eingerissen und alles schmutzig vom Staub ihrer nächtlichen Reise. Ihre Frisur konnte längst nicht mehr als solche bezeichnet werden. Ihr teurer Koffer und ihre Stiefel waren auch weit entfernt von penibel sauber. Während ihr jeder Knochen wehtat wollte sie gar nicht erst wissen, wie ausgeprägt ihre Augenringe nach dieser schlaflosen Tortur waren. So hatte sie sich das alles definitiv nicht vorgestellt! Nur gut, dass sie dem wahren Hazen Donagan so nicht gegenübertreten musste, das wäre ja eine absolute Peinlichkeit gewesen!
Amber zerrte ihren Koffer ein paar Meter mit sich. Durch das hohe Gras verfing sich der Stoff ihres Rockes mit dem Koffer. Sie war weder wach, noch kräftig genug, um einen Sturz abzuwenden. Einen Augenblick lang blieb sie sitzen und hätte am liebsten wie ein kleines Kind auf den Boden getrommelt, doch sie riss sich zusammen. Mit dem Rest an Würde, der ihr geblieben war, richtete sie sich auf und ließ ihren Koffer stehen. Den konnte sie auch später noch holen. Nun zierten auch noch wunderschöne, grüne Grasflecken ihren Rock und ihre Hände, wie sie kopfschüttelnd feststellte.
Als sie sich dem Planwagen näherte, sah sie sich um. Auf dessen anderer Seite lag ein provisorischer Feuerplatz und noch ein Stück weiter entfernt erblickte sie etwas, das aussah wie das Fundament eines Hauses. Überall lagen diverse Utensilien herum, Werkzeuge, Haushaltsgegenstände und Gerümpel. Wer auch immer hier kampierte, tat das schon eine ganze Weile.
„Hallo?“, rief sie vorsichtig und wiederholte es lauter, als ihr niemand antwortete, „hallo!“
Sie strich sich die Strähnen aus der Stirn und hob das Kinn, ehe sie auf die Wände des Planwagens klopfte.
„Hallo, ist hier jemand?“, fragte sie noch einmal.
Dumpfe Geräusche aus dem Inneren waren zu hören. Schön, es ist also jemand zu Hause. Amber tippte ungeduldig mit dem Fuß auf und ab. Das dauerte ja eine Ewigkeit! Was konnte man so lange da drinnen machen?
Schließlich lugte ein Kopf vorne aus dem Planwagen. Tiefschwarze Augen blickten ihr entgegen. Der Mann, wer auch immer er war, hatte langes, tiefbraunes Haar und sah offensichtlich nicht nur kurz nach dem Aufstehen so zerzaust aus.
„Wer sind Sie denn?“, fragte er anstelle einer Begrüßung.
„Mein Name ist Amber Marshall. Die Frage ist – wer sind sie?“
„Donagan.“ Seine Stimme war tief und etwas Dunkles schwang darin mit.
„Nun, das bezweifle ich“, erwiderte Amber möglichst gefasst und erklärte mit einer ausholenden Armbewegung, „der Name meines Verlobten lautet Thomas Donagan und ich bin auf der Suche nach seinem Bruder – Hazen Donagan. Sie können mir nicht zufällig sagen, wo dieser zu finden ist?“
Anstelle einer Antwort starrte der Mann sie nur an. Irgendwann runzelte Amber bedeutungsvoll die Stirn und während er sich offensichtlich auf die Lippen biss, kletterte er aus dem Planwagen und sprang vor ihr auf den Boden.
„Ich, ähm…“
Der Fremde war groß. Und breit. Und schien… wirklich stark zu sein. Seine Augen waren so schwarz, dass sie dabei unweigerlich an den Teufel denken musste. Diesen Eindruck widerlegte auch sein restliches Aussehen nicht. Seine Haare waren lang und verfilzt, seine Klamotten schmutzig und allem Anschein nach die einzigen, die er besaß, so zerschlissen waren sie. Alles in allem fehlte seinem Anblick eigentlich nichts zu einem Bettler und da kam ihr plötzlich ein Gedanke: Was, wenn er den echten Donagan umgebracht und seine Identität angenommen hatte? Bevor sie über die Plausibilität dieses Gedankens nachdenken konnte, machte er einen Schritt auf sie zu.
„Bleiben Sie, wo Sie sind!“, sagte sie bestimmt und streckte die Hand abwehrend in seine Richtung.
Er runzelte die Stirn, ehe er stehenblieb und verstohlen an sich hinunterblickte.
„Ich, ähm…“, setzte er zum zweiten Mal an.
Amber verschränkte die Arme.
„Wer sind sie?“, fragte sie skeptisch.
„Donagan“, presste er hervor und es schien ihm wirklich Mühe zu bereiten, die Worte über die Lippen zu bekommen.
„Herrgott“, schimpfte sie, „sind denn hier alle so schwer von Begriff?“ Plötzlich kam ihr ein Gedanke und das schlechte Gewissen packte sie: „Oh Gott, entschuldigen Sie, sind Sie etwa... behindert?“ Vielleicht konnte er nicht sprechen? Womöglich stotterte er ganz schrecklich oder hatte keine Zunge mehr!
Jetzt klappte ihm der Mund auf. „Ich… behindert… Teufel, nein, ich… Ich bin Hazen Donagan. Ich bin der Bruder von Thomas Donagan.“
Sie konnte nicht anders als in Gelächter auszubrechen. „Doch, ich denke sie sind in irgendeiner Weise eingeschränkt, Mister, denn der Bruder meines Verlobten Thomas Donagans ist der Besitzer einer großartigen Ranch. So großartig, dass sie es sich überhaupt nicht vorstellen können, wie großartig sie ist!“ Sie konnte nicht vermeiden etwas hysterisch zu werden.
Plötzlich wirkte der Mann als wäre er am liebsten im Erdboden verschwunden. „Nun ja“, meinte er, „bis auf das fehlende Haus, die fehlenden Pferche und die fehlenden Rinder… ist sie das ja auch.“
Amber gluckste. Sie konnte nicht anders. Das hier war zu verrückt! „Ja, wirklich, dort drüben, da, wo das Fundament ist, kann ich mir das Haus genau vorstellen. Und da, dort müssten dann die Pferche sein und oh – was für prächtige Rinder! Wahrlich eine großartige…“
„Zum Himmel…“, rief er erschrocken und griff ihr unter die Arme, ehe sie zusammensackte.
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